Politische Entwicklungen zu erklären und plausible Vorhersagen zu treffen, ist das Kerngeschäft akademischer politischer Wissenschaft. Was die erneute Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA angeht, ist beides selbst für jene Politologen nicht leicht, die lange im Geschäft sind. Während seines Forschungsaufenthalts an der Harvard-Universität hat WZB-Emeritus Wolfgang Merkel versucht, mit seinem Kollegen Daniel Ziblatt, dortiger Eaton-Professor für Regierungswissenschaften und Direktor der WZB-Abteilung Transformationen der Demokratie, Ein- und Ausblicke zu sortieren. Wir dokumentieren Auszüge aus dem Gespräch.
Wolfgang Merkel: Es gibt ein großes Bedürfnis in Deutschland, zu verstehen, was in einer der ältesten Demokratien passiert ist. Wie erklärst du das Wahlergebnis? Hat Trump die Wahl gewonnen, oder haben die Demokraten die Wahl verloren?
Daniel Ziblatt: Wenn man sich in der Welt umschaut, haben seit Covid-19 die meisten Amtsinhaber ihr Amt verloren – 15 von 18 etablierten Parteien sind inzwischen nicht mehr an der Regierung. Was gerade in den USA passiert ist, ist also nicht so ungewöhnlich. Wir führen dieses Gespräch auch gar nicht, weil die Wählerinnen und Wähler in Amerika den Amtsinhaber abgewählt haben. Das ist die selbstkorrigierende Kraft der Demokratie: Wenn die Wähler mit der Regierung unzufrieden sind, werfen sie sie aus dem Amt. Der Grund, warum wir dieses Gespräch führen, ist die Frage, wer gewählt wurde und welche Bedrohung das für die Demokratie und das internationale System darstellt. Wie kommt es, dass die Wähler in den Vereinigten Staaten die einzige Möglichkeit, ihre Unzufriedenheit auszudrücken, darin sahen, für einen Kandidaten zu stimmen, der eine Bedrohung für die Demokratie darstellt?
Merkel: War es ein strategischer Fehler der Demokraten, Biden so lange im Rennen zu lassen?
Ziblatt: Ich denke, dass Joe Biden angesichts seiner Unbeliebtheit nach den Zwischenwahlen 2022 hätte sagen sollen: Ich kandidiere nicht noch einmal. Es wäre wirklich wichtig gewesen, jemanden zu haben, der sich vom Amtsinhaber absetzen kann. Kamala Harris war ja Teil der Regierung. Hätte es eine Vorwahl gegeben, hätte sie diese vermutlich nicht gewonnen, und ich denke, es wäre ein besseres Ergebnis geworden.
Merkel: Von der strategischen zur demokratischen Betrachtung: Würdest du sagen, dass der Wechsel des Kandidaten auf den letzten Metern des Wahlkampfs undemokratisch war, dass also die Vorwahlen durch eine Art oligarchische Auswahl ersetzt wurden?
Ziblatt: Es gibt einen Unterschied zwischen der deutschen und der amerikanischen Demokratie in Bezug auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Institutionen. Das deutsche Grundgesetz verlangt, dass Parteien demokratisch organisiert sein müssen. In der amerikanischen Verfassung kommt das Wort „Partei“ gar nicht vor, also gibt es auch keine Beschreibung, wie Parteien organisiert sein sollen. Die meiste Zeit unserer Geschichte hatten wir völlig undemokratisch organisierte Parteien. Bis 1972 trafen sich alte Männer in verrauchten Hinterzimmern und wählten aus, wen sie für den besten Kandidaten hielten. Das hat sich als ziemlich gutes System erwiesen. Sie haben keine Demagogen oder Betrunkene gewählt – einfach, weil sie diese Leute kannten. Es war ein System der gegenseitigen Überprüfung. 1972 wurde in den USA ein viel demokratischeres Verfahren zur Auswahl der Präsidentschaftskandidaten eingeführt: durch Vorwahlen. Aber die Staaten werden in zufälliger Reihenfolge ausgewählt, und die Wahlbeteiligung ist sehr niedrig. Es ist also vielleicht demokratischer als vorher, aber es ist nicht wirklich demokratisch. Ich würde sagen, die Art und Weise, wie wir unsere Kandidaten auswählen, ist ein kaputter Teil, eine Schwäche unseres Systems.
Merkel: Du würdest solche Vorwahlen also nicht als ein Element der Demokratisierung des deutschen parteiengesteuerten Systems empfehlen ...
Ziblatt: Nun, immerhin müssen wir sagen, dass Barack Obama ohne das Vorwahlsystem niemals Kandidat geworden wäre, weil er 2008 der Außenseiter war; Hillary Clinton hätte gewonnen. Und viele halten Obama im Nachhinein doch für einen guten Präsidenten. Dasselbe Vorwahlsystem hat andererseits dazu geführt, dass Donald Trump 2016 der Kandidat der Republikanischen Partei wurde. Das System ist also anfällig für Demagogen.